Ich habe die ehrenvolle Aufgabe erhalten, am Beispiel der Schweiz einige Gedanken zu den „Funktionen des Föderalismus in einem multikulturellen Staat“ zu erläutern. Ich werde versuchen, in der mir zur Verfügung gestellten Zeit einige zentrale Aspekte des schweizerischen Föderalismus hervorzuheben.
Ich habe die ehrenvolle Aufgabe erhalten, am Beispiel der Schweiz einige Gedanken zu den „Funktionen des Föderalismus in einem multikulturellen Staat“ zu erläutern. Ich werde versuchen, in der mir zur Verfügung gestellten Zeit einige zentrale Aspekte des schweizerischen Föderalismus hervorzuheben.
Dass die Schweiz als multikultureller Staat verstanden werden kann, muss wohl nicht gross erklärt werden. Im Unterschied zu anderen sich im 19. Jahrhundert herausbildenden Nationalstaaten hat sich die Schweizerische Eidgenossenschaft nie als „Nation“ im klassischen Sinne verstanden. Die Schweiz ist 1848 vielmehr als Zusammenschluss der Völkerschaften von 22 souveränen Kantonen heraus entstanden. Oder einfacher: Mit der Bundesverfassung von 1848 hat sich die Schweiz von einer „Konföderation“ (Staatenbund) zu einer „Föderation“ (Bundesstaat) gewandelt. Unter dem Dach einer gemeinsamen Verfassung sollten fortan Menschen verschiedener Sprache, Kultur, Religion und Herkunft in einer Gemeinschaft mit gemeinsamer Identität und gemeinsamen Wertvorstellungen vereinigt werden, ohne ihre eigene Identität preisgeben zu müssen. (Klammer: Ich verzichte an dieser Stelle auf die Präsentation von Statistiken und Karten, welche die Heterogenität der schweizerischen Bevölkerung verdeutlichen und begnüge mich stattdessen mit den lapidaren Aussagen: „Ein Westschweizer ist kein Deutschschweizer, ein Zürcher kein Basler, ein Berner Oberländer kein Stadt-Berner“).
Ein Zusammengehen der verschiedenen Völkerschaften ohne eine föderale Staatsorganisation wäre von vornherein zum Scheitern verurteilt gewesen. Der Föderalismus – verstanden als normatives und politisches Ordnungsprinzip – gehört seit Beginn zusammen mit der Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit zu den konstitutiven Elementen (Grundpfeilern, Strukturprinzipien) der schweizerischen Staatsordnung. Die föderale Staatsorganisation besteht aus folgenden Grundmerkmalen:
- Der Staat setzt sich aus mind. zwei staatlichen Ebenen (Bund und Kantone) zusammen, wobei die Kantone weitere territoriale Ebenen (insb. Gemeinden) bilden können.
- Diese zwei- oder mehrgliedrige Staatsstruktur wird durch die Bundesverfassung geordnet, die ihrerseits nicht von der obersten Ebene alleine abgeändert werden kann. Verfassungsänderungen bedürfen in der Schweiz auch des sog. Ständemehrs.
- Im Rahmen dieser verfassungsmässigen Ordnung kommt jeder staatlichen Ebene Autonomie und Staatsgewalt gegenüber der im jeweiligen Territorium ansässigen Bevölkerung zu.
- Im Unterschied zu bloss dezentralen System eines Zentralstaats kommt den untergeordneten staatlichen Ebenen an der politischen Willensbildung der übergeordneten Ebene ein Mitwirkungsrecht zu. Insbesondere besitzen die Mitgliedstaaten für die Rechtsetzung auf Bundesebene Initiativ-, Mitwirkungs- und Mitentscheidungsrechte.
- Es würde allerdings zu kurz greifen, den Föderalismus auf ein blosses politisches Ordnungsprinzip zu reduzieren, denn in Bundesstaaten (wie der Schweiz) steht der Föderalismus auch für eine von den Bürgern und Institutionen gelebte Kultur („föderale Kultur“, „living federalism“). „Föderalismus“ lässt sich nicht von oben nach unten „verordnen“, er muss auch gelebt werden. In der Schweiz wird der Föderalismus tagtäglich gelebt, obwohl Sie in der Bundesverfassung keine Bestimmung finden werden, welche die Schweiz als „föderalistisch“ oder als Bundesstaat definiert.
Alle diese Elemente gewährleisten, dass sich die einzelnen Bürger nicht nur mit ihrer eigenen Gemeinde, ihrem Wohnsitzkanton, ihrer Gruppe (Sprachgruppe, Religion, Kultur oder sogar Rasse), sondern auch mit der ganzen Rechtsgemeinschaft identifizieren. Oder salopper ausgedrückt: Auch ein Zürcher jubelt, wenn ein Genfer den Alinghi’s Cup gewinnt.
Lassen Sie mich damit auf die Funktionen zu sprechen kommen, die dem Föderalismus im Kontext der Staatsorganisation im Allgemeinen
zugesprochen werden.
- Im Vordergrund steht die Funktion, in einer politisch verfassten Gemeinschaft trotz dem Vorhandensein von „Vielfalt“ eine gewisse „Einheit“ zu schaffen („realising unity through diversity“). Der Föderalismus ist in diesem Zusammenhang ein Instrument für den Schutz von sprachlichen, kulturellen und regionalen Minderheiten. Diese erhalten nicht nur Selbstbestimmungsrechte und Autonomie, sondern werden ebenfalls in die gesamtstaatliche Willensbildung einbezogen.
- Des Weiteren führt der Föderalismus zu einer Verteilung der Staatsgewalt (vertikale Machthemmung): Die Staatsgewalt wird nicht nur unter verschiedenen Organen (Montesquieu), sondern auch zwischen verschiedenen Gebietskörperschaften aufgeteilt.
- Schaffung von Bürgernähe: Die Aufgaben können durch die Nähe zu den Bürgern effizienter und zweckmässiger gelöst werden. Die „unteren“ Staatsebenen können auf (neue) Probleme schneller und adäquater reagieren.
- Schaffung von mehr Demokratie: Des Weiteren schafft eine mit der föderalen Staatsorganisation einhergehende Aufteilung von Entscheidkompetenzen auf verschiedene Staatsebenen mehr demokratische Mitwirkungsrechte und Verantwortung. Politische Macht wird bürgernäher, transparenter und wohl auch effizienter.
- Vielfalt von Lösungen: Der Föderalismus steigert den Wettbewerb unter verschiedenen Gliedstaaten in der Suche nach den „besten“ Lösungen für anstehende Probleme.
Diese Aufzählung ist keinesfalls abschliessend zu verstehen. Ausserdem stehen die verschiedenen Funktionen in einem Verhältnis des gegenseitigen Wechselspiels. Der Föderalismus ist also – so das Zwischenergebnis – eine ideale Staatsform für eine bürgernahe, demokratische und friedliche Ordnung von Vielfalt in der Einheit, kann aber nicht einfach über das Reissbrett der Verfassung einer Bevölkerung aufdiktiert werden. Er eignet sich besonders für Demokratien mit einer grossen Bevölkerung oder einem grossen Staatsgebiet sowie für Länder mit regional konzentrierten, unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen. Verlangt ist aber eine den örtlichen und zeitlichen Verhältnissen angepasste Ausgestaltung der föderalistischen Staatsordnung. Das Föderalismusprinzip ist kein starres Prinzip, sondern örtlich wandelbar und zeitlich flexibel. Aufgrund der bisherigen Ausführungen könnte der Eindruck entstehen, dass die föderalistische Staatsstruktur eine Art Wunderheilmittel sei, mit welchem sich sämtliche Konflikte in multikulturellen Staaten sehr leicht beseitigen liessen. Dass dem nicht so ist, liegt natürlich auf der Hand:
- Zunächst gibt es kein universal gültiges föderalistisches Modell, sondern so viele Modelle wie es Bundesstaaten gibt.
- „Föderalismus“ lässt sich sodann – wie bereits erwähnt – nicht verordnen, sondern muss letztlich von den Menschen getragen werden.
- Es müssen Lösungen gefunden werden, welche die historischen, kulturellen und geografischen Besonderheiten des einzelnen Staates berücksichtigen, politisch tragbar und umsetzbar sind.
Die Schweiz ist – im Unterschied zu anderen Bundesstaaten – nicht aus einem zentralstaatlichen System (wie z.B. Belgien, Südafrika) oder im Zuge der Entkolonialisierung (wie z.B. Kanada, Mexiko, Brasilien) entstanden, sondern (ähnlich, aber natürlich nicht gleich wie USA oder Deutschland) aus ehemals unabhängigen Staaten bzw. einem Staatenbündnis hervorgegangen. Selbstverständlich hat auch diese Geburt nicht ohne Konflikt stattgefunden, wenn auch der „Sonderbundskrieg“ nur gerade 25 Tage (4.-29.11.1847) dauerte. Diese Art der Entstehung ist natürlich nicht vergleichbar mit Staaten, die sich nach zermürbenden (Bürger- )Kriegen für ein föderales System entscheiden (wie vielleicht z.B. Irak, Sudan, Äthiopien).
Der berühmte „Fluch“ liegt im Detail: Wie viele staatliche Ebenen soll es geben? Wo sollen die Grenzen der regionalen und lokalen Gebietskörperschaften gezogen werden? Wie sollen die Staatsgewalt aufgeteilt werden? Wieviel Mitwirkungsrechte sollen den Gliedstaaten auf der Bundesebene zukommen etc.
Ferner darf nicht vergessen werden, dass Föderalismus immer zu Ungleichheiten (Rechtsungleichheiten) führt. Autonomie führt zu Rechtszersplitterung; Bürger werden mit Bezug auf die gleiche Sache in den einzelnen Gliedstaaten (Kantonen) unterschiedlich behandelt. Aber auch mit Bezug auf die Mitwirkung an der politischen Willensbildung auf Bundesebene wird das Gleichheitsprinzip durchbrochen; der Grundsatz „one man – one vote“ weicht dem Prinzip des föderalen Gleichgewichts mit der Folge, dass einem Appenzeller im Vergleich zu einem Zürcher ein Vielfaches an Stimmgewicht zukommt.
Doch ich möchte diese Frage hier nicht vertiefen, sondern vielmehr auf ein wichtiges Element hinweisen, das für das friedliche Zusammenleben in der Schweiz von besonderer Bedeutung ist: Die Kantonsgrenzen decken sich nicht mit Sprach- oder Religionsgrenzen. So läuft die Grenze zwischen der französischsprachigen Minderheit und der deutschsprachigen Mehrheit durch die zweisprachigen Kantone Wallis, Freiburg und Bern. Oder im Kanton Freiburg werden Sie nicht nur auf Katholiken, sondern auch auf Protestanten deutscher und französischer Muttersprache treffen. Ferner kennen viele Kantone nicht nur urbane Zentren, sondern auch ländliche Gebiete usw.
Unabhängig von der Mobilität der Menschen findet hier eine institutionelle Vermischung von Sprach- und Religionsgemeinschaften statt, was – vielleicht im Unterschied zu Belgien – das friedliche Zusammenleben „in Einheit und Vielfalt“ gewährleistet.
Freilich präsentiert sich auch das Zusammenleben in der Schweiz nicht konfliktfrei. Abgesehen von den auf die Zeit vor der Staatsgründung zurückgehenden Spannungen zwischen Katholiken und Protestanten, die bis in das letzte Drittel des 20. Jahrhunderts nachwirkten, scheint die Frage des „Jura“ weiterhin ungelöst. Das Beispiel des sich aus dem protestantischdeutschsprachigen Kanton Bern herausgelösten Kantons Jura zeigt, dass Religion und Sprache in Fragen der Staatbildung immer noch für politisches Zündfeuer sorgen können.
Umso wichtiger ist es, dass die Rechtsordnung für solche Fälle Streitlösungsund Streiterledigungsmechanismen bereithält. In der Bundesverfassung sind Bestand und Gebiet der heutigen Kantone sowie deren verfassungsmässige Ordnung gewährleistet. Kantonsfusionen bedürfen ebenso einer Verfassungsänderung wie Gebietsveränderungen. Staatsrechtliche Streitigkeiten sollen nach Möglichkeit durch Vermittlung bereinigt werden; gelingt dies nicht, können Bund und Kantone beim Bundesgericht Klage erheben.
Die Identität des schweizerischen Bundesstaates wird ganz entscheidend vom Zusammenleben der Menschen in der Vielfalt geprägt. Diese Staatsauffassung wird in einem bedeutenden Ausmass im Föderalismus verwirklicht und in dessen polit-kulturellen Einrichtungen gelebt. Im Spannungsfeld zwischen Diversität und dem nötigen Zusammenhalt des Landes gilt es, die «richtige» Mischung zwischen Vielfalt und Vereinheitlichung im Rahmen demokratischer Entscheidungsprozesse immer wieder neu zu suchen und zu definieren. Dank diesem Mechanismus ist es gelungen, die Vielfalt der verschiedenen Sprachen und Kulturen in eine Rechtsgemeinschaft zu integrieren, die unterschiedlichen polit-kulturellen Interessen auszubalancieren und damit den Sprachenfrieden sowie den Frieden innerhalb der angestammten Sprach- und Kulturgemeinschaften einigermasen zu gewährleisten. Die herkömmliche kulturelle Vielfalt hat allerdings mit der Einwanderung neue Konturen erhalten. Diese immigrationsbedingte neue kulturelle Vielfalt ist im Gegensatz zur angestammten Diversität nicht territorialgebunden, während das föderalistische System primär territorial geprägt ist. Vor diesem Hintergrund hat sich das föderalistische Modell weiterzuentwickeln und die neue Vielfalt einzubinden, um letztlich zum Zusammenleben aller Menschen in Vielfalt und (notwendiger) Einheit beizutragen.
Lassen Sie mich zum Schluss kommen:
Der Föderalismus kann ein Modell sein, um das Zusammenleben von verschiedenen Volksgruppen unter einem gemeinsamen verfassungsrechtlichen Dach zu ermöglichen. Es gibt aber kein einziges, allgemeingültiges Modell, sondern nur verschiedene, auf die jeweiligen Eigenheiten der betreffenden Gemeinschaften abgestimmte Modelle. Ein verfassungsrechtliches Konstrukt eines föderalen Staatsaufbaus allein genügt natürlich nicht, um das friedliche Zusammenleben der Menschen zu gewährleisten. Das föderalistische Staatsverständnis muss sich auch in den Köpfen der Menschen verankern. In der Schweiz hat sich das Modell bewährt. Dieser Erfolg wird aber nur andauern, wenn es gelingt, den Föderalismus ständig neu an die gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Veränderungen anzupassen.
BW/17.9.2010
Ich habe die ehrenvolle Aufgabe erhalten, am Beispiel der Schweiz einige Gedanken zu den „Funktionen des Föderalismus in einem multikulturellen Staat“ zu erläutern. Ich werde versuchen, in der mir zur Verfügung gestellten Zeit einige zentrale Aspekte des schweizerischen Föderalismus hervorzuheben.